Das andere Geschlecht
Obwohl es auch zu Zeiten Francesco Guardis Kämpferinnen für Frauenrechte gab, spricht man erst in jüngster Zeit – seit der zweiten Frauenbewegung in den 1970er Jahren - von Feministischer Theorie. Sie entsteht nicht - wie andere wissenschaftliche Disziplinen im 18. Jahrhundert - in einem universitären Umfeld, sondern aus einer gesellschaftlichen Bewegung heraus. Trotz ihres gesellschaftspolitischen Ansatzes erhebt die Feministische Theorie einen wissenschaftlichen Anspruch, sie hat aber aufgrund ihrer Interdisziplinarität bis heute an den Universitäten einen besonderen Status. Gerade weil die Kategorie Geschlecht in allen Lebensbereichen vorzufinden ist und nicht losgelöst von anderen Zusammenhängen betrachtet werden kann, wird die Feministische Theorie in vielen Gebieten angewandt.
Ein bahnbrechendes Werk und heute ein Klassiker der Feministischen Theorie ist „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir. Darin wird erstmals eine sehr präzise Analyse der Geschlechterverhältnisse vorgenommen. Mit dem Satz: „Man kommt nicht als Frau zur Welt – man wird es“ schlägt Beauvoir vor, Weiblichkeit nicht länger als naturgegebene Tatsache anzunehmen, sondern davon auszugehen, dass es ein biologisches Geschlecht (sex) gibt, dem ein soziales Geschlecht (gender) nachfolgt. Diese Unterscheidung diente als politische Grundlage dafür, soziales Geschlecht als kulturelle Konstruktion aufzudecken und soziales Rollenverhalten erstmals als unabhängig von der körperlichen Konstitution zu betrachten. Dies bedeutet beispielsweise Frauen nicht aufgrund der bloßen Möglichkeit einer Schwangerschaft für die Pflege und Erziehung von Kindern verantwortlich zu machen oder das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper durchzusetzen durch Abschaffung des Abtreibungsparagraphen.
Simone de Beauvoir ist eine Vertreterin des liberalen Feminismus, der die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit in der Gleichstellung von Mann und Frau sieht.
Quelle: Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, 1949