Bedeutende Künstlerinnen?
Warum hat es zu Zeiten Francesco Guardi’s keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?
Francesco Guardi gilt als einer der bedeutendsten Maler im Venedig des 18. Jahrhunderts. Es stellt sich die Frage, warum es in dieser Position keine weibliche Entsprechung gegeben hat. Warum gibt es keine Frauen, die wie Michelangelo oder Picasso als Genies bezeichnet werden und nur sehr wenige, die überhaupt von der Kunstgeschichte erfasst werden?
„Weil Frauen zu wahrer Größe nicht fähig sind!“ ist die Antwort, die gern mitgeliefert wird. Dabei wird leicht übersehen, dass bereits die Fragestellung grundlegend falsch ist. Sie verfälscht die Natur des eigentlichen Problems, indem sie von Vornherein die Annahme nahe legt, Frauen könnten – aus welchen Gründen auch immer – nichts Außerordentliches leisten. Man kann zwar versuchen, Beispiele wichtiger, nicht gewürdigter Künstlerinnen zu nennen und interessante Karrieren zu rehabilitieren.
Damit rüttelt man jedoch keineswegs an den Grundfesten der Frage. Allein der Versuch, sie zu beantworten, ist die stillschweigende Bestätigung ihrer negativen Implikationen. Eine weitere Möglichkeit wäre, Frauen eine andere Art von Größe einzuräumen. Der Stil von Künstlerinnen ist aber keineswegs durch gemeinsame Merkmale der „Weiblichkeit“ verbunden, sondern vielmehr in der jeweiligen Epoche und Auffassung verhaftet. Oft wird behauptet, Frauen seien introspektiver und feinsinniger. Problematisch ist hierbei nicht nur der enge Weiblichkeitsbegriff, sondern auch die Idee, Kunst sei in erster Linie Ausdruck individueller emotionaler Erfahrung. Genau das ist Kunst fast nie.
Tatsache ist, dass es keine überragend großen Künstlerinnen geben hätte können, weil unsere Institutionen und unsere Erziehung jeden benachteiligt haben, der nicht weiß, männlich und aus der Mittelschicht stammend ist. Eine mögliche Umformulierung der Frage wäre demnach: „Welche Bedingungen haben dazu geführt, dass Frauen keine herausragenden Künstlerinnen werden konnten?“
Quelle: Linda Nochlin: Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben? In: Rahmenwechsel: Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft in feministischer Perspektive. Berlin 1996