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Die ungerahmte Ikone

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Das Kreuz auf der Kirche rechts im Bild ist nicht nur ein Zeichen des Christentums, sondern auch ein Grundelement der Geometrie.
Neben dem Kreuz waren das Quadrat und der Kreis die Grundformen des Suprematismus, einer künstlerischen Strömung der russischen Avantgarde, gegründet von Kasimir Malewitsch. Abgeleitet vom Lateinischen „supremus“ (das Höchste) steht diese Kunstrichtung für die  höchste Form der Abstraktion in der russischen Kunst. Sie hat spätere Richtungen, wie beispielsweise das Bauhaus, entscheidend beeinflusst.

Das wohl bekannteste Gemälde des Suprematismus ist das 1913 entstandene schwarze Quadrat auf weißem Hintergrund. Malewitsch versucht, mit dem schwarzen Quadrat die Empfindung der Gegenstandslosigkeit darzustellen. Das Quadrat ist die Empfindung, das weiße Feld dahinter die Leere. Die wahre Revolution des schwarzen Quadrats auf weißem Hintergrund ist aber nur in Zusammenhang mit den politischen Umwälzungen Russlands in dieser Zeit zu verstehen. Malewitsch selbst nannte das Bild eine „ungerahmte Ikone“ seiner Zeit. Genauso wie traditionellerweise Ikonen in die östlichen Ecke eines Raumes gehängt werden, hängte auch Malewitsch sein Gemälde in die östliche Ecke in der Letzten Futuristischen Ausstellung 0.10 in Petrograd 1915, in der es erstmals gezeigt wurde.
Ähnlich wie Malewitsch sich von jedweder Gegenständlichkeit verabschiedet und alle Formen auf geometrische Grundformen reduziert, verabschiedet sich die russische Gesellschaft innerhalb von nur wenigen Jahren von Jahrhunderte alten Herrschaftsstrukturen der Zaren und beginnt, einen sozialistischen Staat aufzubauen. Für kurze Zeit ist der künstlerische Widerstand Malewitschs der politische Widerstand des russischen Volkes. „Ich gehorchte den Vätern nicht und bin ihnen nicht ähnlich“, behauptet er selbst. Sehr bald aber kann der Suprematismus der sozialistischen Forderung nach einer richtungsweisenden, manipulativen Kunst nicht gerecht werden. Er wird aus der künstlerischen Rezeption verdrängt und erst nach der Auflösung der Sowjetunion als eine der bedeutendsten künstlerischen Richtungen der Moderne rehabilitiert.

1992 macht das slowenische Künstlerkollektiv Irwin eine Hommage an Malewitsch: sie breiten ein schwarzes Viereck aus Stoff mit 22 Metern Kantenlänge auf dem Roten Platz in Moskau aus. Diese Geste stellt erneut die Frage nach politischen und kulturellen Veränderungen – diesmal im Russland der 90er Jahre.

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